01.08.1992
Die Stadt lag fern, ich hörte noch ihre unermüdliche Hektik, das Treiben der Menschen, ihre Hast, ihre Blicke, ihre stumpfsinnigen Gedanken des Vorhandenseins in ihrem Untergebrachtsein.
Alles das habe ich erst jetzt verstanden – deine Träume und Leidenschaften – dein schweigsames Tun.
Ich schlage Seite für Seite deiner Tagebücher auf, wie Kristalle fallen die Wörter in das grüne Gras und erwecken erneut zu Leben, so rund und bunt und tief.
Rein äußerlich unterschied sie sich nicht von anderen Frauen.
Frisur und Mode waren der Stadt angepasst. Ihr feines schmales Gesicht mit den großen blauen Augen schauen mich fragend an. Die blonden Locken mit einem Haarband gezähmt, fallen sinnlich über ihre Schulter, hinab zum Bauchnabel da wo sich das Leben ewig nährt. Ich bewahre noch ihre verschiedenen Lippenstifte, die Rotbraunen bis Knallroten, in einer dafür angefertigten Schatulle auf. Auch den mittelgroßen schwarzen Koffer.
Im Zimmer sitze ich weit entrückt von der Welt, eine alte Petroleumlampe die mich den stechenden Geruch spüren lässt, die Art des Lichtflackerns, die Gegenstände um sie herum anmorst um Kontakt aufzunehmen. Ich träume Mosaikstein für Mosaikstein und allesamt fallen sie, so wie sie gedacht, Stein für Stein von meinem Schoß, unbedarft und rein auf den knarrenden Holzfußboden. Die Geburten liegen nackt, noch in Embryostellung, müssen noch lernen zu atmen. Der Holzfußboden knarrt unter ihnen – so, als möchte er ihnen sagen, dass sie ihn belasten – so nackt und ruhig. Das einzige was er angenommen hat, sind ein paar wenige Möbelstücke, die fest ihren Platz eingenommen haben sowie die Schritte der Menschen die ihn getreten haben. Ich spüre förmlich seine Wollust wie er unentwegt diese Tritte fordert. Sehnsuchtsvoll knarrt er mich an und möchte die auf ihm liegenden Embryogedanken abschütteln. Das Zimmer ist gegenwärtig, es lebt und der Holzfußboden ist dazu da, einen Raum zu durchschreiten.
Verführerisch liegen vis-à-vis die kleinen Kuchen in einer blauen Glasschale, so einfach, um gegessen zu werden. Dafür müsste ich aber den Raum durchschreiten. Im flackerndem Licht spüre ich meine Begierden – aufzustehen und eiligen Schrittes zu der alten Kommode zu gehen und aus der blauen Glasschale die süßen Kuchen zu nehmen. Im Begriff die süßen Kuchen zu nehmen verharrte ich. Vor mir liegen sie, die Gedanken, ausgebreitet, unendlich viele, sie schlafen. Ab und zu zucken einige von ihnen, dann wenn das Licht der Petroleumlampe sie mit dem Flackern sanft kitzelt. In einer Art Ohnmacht verweilen meine Augen und bahnen sich den Weg in langsamen Schwingungen zu der blauen Glasschale hin, die in verlockender Weise ihren darinliegenden Inhalt entblößt. Die weitgeöffneten Schenkel lassen den Duft der frischen Kuchen entströmen, der mondförmige Kern, überzogen von einer klebrig süßen Masse lässt mich ahnen.
Versunken in dem süßen Traum der Zuckermasse werfen sie mir schamlos ihre Geilheiten ins Gesicht. Erstaunt schaue ich auf den Holzfußboden – meine Gedanken kriechen wie feingliedrige Würmchen geradewegs zu dieser mit Kuchen Gefüllten Schale – allesamt, auch die, die noch eben Schlafenden kriechen in hastigen Stößen sich fortbewegend der blauen Tür der Peepshow entgegen.
Dichtgedrängt, ungeduldig, von jäher Hast –
WARTEN SIE, BIS FÜR SEKUNDEN DIE TÜR AUFGEHT!
Ich sehe die blaue Sekundentür sich öffnen und allesamt – auch der verträumteste Schläfer versucht durch das blaue Glas zu schauen und hat sie alle verschlungen, die runden Kuchen im klebrig, süßen obszönen Duft.
Mein Weg war frei und die Stadt erschien mir wie eine große Guillotine.